"Kinomusik hat den Gestus eines Kindes, das im
Dunkeln vor sich hinsingt" (Hanns Eisler, Komponist)
Den Kern der Sache trifft am ehesten der deutsche
(Film)Komponist Hanns Eisler mit seiner Vermutung, Filmmusik habe,
insbesondere in den Anfängen, zur Beruhigung der im Dunkeln sitzenden,
anonymen Zuschauermenge gedient. Habe es doch manch einer zweifellos mit der
Angst zu tun bekommen angesichts der verblüffend realistischen, gleichzeitig
aber stummen Bilder. Gespenstischer Szenen eben, wobei die Metapher von dem
Kind, das sich mit Singen seine Einsamkeit vertreibt, durchaus passend
erscheint. Denn Musik, als Medium des Raumlos-Vorbewussten, besitzt
verbindende Kräfte, wie wir im Folgenden noch sehen werden. Sie macht einig,
kollektiviert.
Überspitzt ausgedrückt: jede Art von Musikhören ist auch
eine Rückkehr zum Mythos. In dem Sinne nämlich, dass schon das Erklingen eines
einzelnen Tones oder eines simplen Akkordes die menschliche Ur-Sehnsucht nach
universaler Harmonie anspricht; oder ein einziger Paukenschlag, der stets
aufs neue die Urvision vom "Weltgericht" in uns wachruft, die Urangst vor dem
plötzlichen Dreinschlagen einer fremden (göttlichen) Macht. Man lausche nur
einmal auf die Instrumentierung entsprechend "mythisch" intendierter Stücke,
wie Carl Maria von Webers "Freischütz" oder seine Ouvertüre "Beherrscher der
Geister" op.27: Klangbilder, die uns mit der Sphäre des Sich-Erinnerns und
der "ewigen Wahrheiten" konfrontieren. Das mag pathetisch klingen, ist jedoch
durchaus nachvollziehbar, wenn man bedenkt, welche spirituelle Rolle die
Musik in vielen Kulturen von jeher gespielt hat und bei den sogenannten
Naturvölkern noch heute spielt. Ob schamanistisches Tanzritual, meditativer
Mönchsgesang oder Nationalhymne - Töne suggerieren immer auch eine Art
Eins-Sein des Individuums mit sich und der Welt. So wie schon ein simples
Schlaflied dem Kind das Hinübergleiten ermöglicht vom Wachzustand zur
Raum-Zeitlosigkeit des Unterbewusstseins.
Bilder dagegen trennen. Sie zeigen äußere Realität, sind
Zustandsbeschreibungen, dinglich-konkrete Mitteilungen über eine sichtbare
Wirklichkeit, deren Emotionalität sich dem Betrachter verschließt. Gerade im
Medium Film, wo sich jede einzelne Sekunde aus 25 Einzelfotografien
zusammensetzt und auch der Erzählprozess im Ganzen ausgesprochen
bruchstückhaft vonstatten geht, wird der "objektive" Informationscharakter
von Bildern deutlich. Ihre "digitale" Beschaffenheit (vom lateinischen
digitus, dem Wort für (Zähl-)Finger abgeleitet) bedeutet zugleich, dass
wir es hier grundsätzlich immer mit punktuellen Informationen zu tun haben,
die zunächst relativ beziehungslos nebeneinander stehen und von sich aus
nüchterne Fakten darstellen.
Freilich haben auch Regisseure immer schon nach
entsprechenden emotionalen Gestaltungsmitteln auf visueller Ebene gesucht.
Andernfalls wäre die Kunstform Film nicht entstanden. Und genaugenommen ist
bereits jeder Schnitt, jedes Eingreifen in den Erzählrhythmus, jeder Zeit-
und Raumsprung ein solches Gestaltungsmittel. Gar nicht zu reden von den
vielen mehr oder weniger unterschwelligen "Subtexten" wie Licht- und
Farbgebung, Perspektivwahl, Hintergrundarrangement, Zeichensymbolik. Schon
der allererste Versuch mit bewegter, also nicht mehr statisch fixierter
Kamera, war ein erster Schritt in diese Richtung. Denn Bewegtes - daran
jedenfalls glaubten schon die Pioniere des Filmgenres - wird hier zu
Bewegendem, zu Impulsen, die eine Richtung haben und vor allem: Rhythmus.
Auffallend sind dabei die Titel derartiger früher Experimente, in denen
Filmemacher wie Hans Richter oder Walter Ruttmann versuchten, nur mit Bildern
Emotionalität zu erzeugen, die Welt der reinen Gegenständlichkeit zu
überwinden. Fuge in Rot und Grün, Rhythmus 21-25,
Rennsymphonie, Berlin. Symphonie einer Großstadt. Gerade im
letztgenannten Film aus dem Jahr 1927 lassen sich eine Menge musikalischer
Merkmale finden. Das Thema lautet: eine Stadt vom frühen Tagesanbruch bis
Mitternacht. Wobei der Rhythmus durch die Bildschnitte bestimmt ist; da gibt
es Beschleunigungen (rush hour) und Verlangsamungen (Mittagssequenz).
Doppelbelichtungen entsprechen der Dichte von Akkorden, Handlungsabläufe wie
bewegte Beine oder die Aufwärtsbewegung eines Fahrstuhls haben geradezu
melodische Qualität.
Dennoch scheint die "musikalische" Benennung der oben
angeführten Beispiele ein Hinweis darauf zu sein, dass Emotionalität und das
Erzeugen von Emotionen beim Zuschauer primär mit den Tönen und dem Ohr
korrespondiert und erst in zweiter Linie mit dem visuellen Sinn.
"Ich werde eine Zeitlang durch bedeutende Wirkung auf mein
Auge lebhaft ergriffen: aber - es dauert nicht lang. Es scheint, dass das Auge
mir als Sinn der Wahrnehmung der Welt nicht genügt." (Richard Wagner)
Als moderne Bildschirm-Voyeuristen kennen wir diese
Situation. Wir stehen in einem Lokal, warten auf die bestellte Pizza zum
Mitnehmen. Vis à vis läuft - stumm! - der Fernseher. Kriegsszenen aus dem
früheren Jugoslawien; die Meldung von einem Flugzeugabsturz, einer
Öltankerhavarie oder was auch immer. Bilder, die eigentlich betroffen machen
könnten, es aber nicht tun - weil ihnen der entsprechende Originalton fehlt
(gemeint ist nicht die Stimme des Moderators). Oder, um bei Richard Wagner
und seinem philosophischen Gewährsmann Schopenhauer zu bleiben. Beide finden,
dass das Sehen der Gegenstände an sich "kalt und teilnahmslos" lasse, und
dass
erst aus dem "Gewahrwerden der Beziehungen der gesehenen Objekte zu unserem
Willen die Erregungen des Affektes" entstehen.
Die direkteste und urnatürlichste Willensäußerung aber ist
der Ton! Eben besagter schicksalhafter Paukenschlag oder die Harmonie eines
Streicherakkordes, aber auch der unmittelbare Angstschrei der leidenden
Kreatur, die unterschwellige "Musik" in der menschlichen Stimme - tönende
Subtexte also, mit emotionalem Aussagegehalt. Und es ist daher nicht weiter
verwunderlich, dass ein Musikdramatiker wie Wagner zwischen "Schallwelt" und
"Lichtwelt" unterscheidet, beziehungsweise zwischen der Sphäre von Traum- und
Wachzustand, und folgerichtig das unsichtbare Orchester schafft, das
bei der Oper künftig aus dem Orchestergraben heraustönt, was beim Film dem
verborgenen Soundtrack entspricht. Handelt es sich doch hier, nach den Worten
des Bayreuther Meisters, um einen "mystischen Abgrund" und - in Anlehnung an
die antiken griechischen Orchestra - um den "Zauberherd" der Gefühle und
Empfindungen. (...)
Die "Fühlarbeit" (im Unterschied zur Denkarbeit des Auges)
leistet im Film das Ohr. Und der Hauptgrund für die frühzeitige Bindung von
Bild und Musik liegt zweifellos in der filmischen Darbietungsform selbst.
Denn Film-Realität ist auf zwei Ebenen begrenzt: die
visuelle und die akustische. Dies bedeutet zugleich, dass
wesentliche Sinneseindrücke, wie wir sie normalerweise im Alltagserleben
haben, hier fehlen. Etwa Aussagen klimatischer Art wie Temperatur, Luftdruck,
Luftfeuchtigkeit; oder über die Beschaffenheit des betreffenden Raumes, in
dem eine Handlung spielt - Raum in physikalischer wie geografischer Hinsicht
-; über Geschmacks- und Geruchseindrücke, Zeitzusammenhänge und die
psychische Disposition von Personen. Kurz: Aussagen über alles das, was wir
gemeinhin als Atmosphäre bezeichnen und von dessen Nachvollziehbarkeit wir es
abhängig machen, ob wir etwas glauben oder als unrealistisch empfinden.
Nehmen wir als Vergleichsobjekt die Wortsprache. Auch sie
besteht aus Bildern und Klängen, wobei der Logos (von griechisch =
Sinn, Vernunft) den reinen Informationscharakter der Worte meint - also das
"Was" - und der Stimmklang, der Sound (vom lateinischen sonor = Laut)
sich auf das "Wie" bezieht: wie wird etwas gesagt, wie tönt die Stimme
dessen, der es sagt? (Stimme wiederum als sprachgeschichtliche
Verwandte von Wörtern wie "Stimmung" oder "Stimmigkeit", ein Instrument
"stimmen", eine Aussage, die "stimmt").
Eine Redewendung etwa wie "Ich freue mich, Sie zu sehen"
wird erst in dem Moment aufschlussreich, wie wir sie klingen hören - mit oder
ohne ironischen Unterton. Und auch Humphrey Bogarts meistzitierter Ausspruch
"Ich schau Dir in die Augen, Kleines" könnte durchaus fehlinterpretiert
werden, wenn sie mit der verkehrten Betonung gesprochen wird - beispielsweise
als pure Überheblichkeit.
Beim Lügen stoßen wir auf dieselbe Diskrepanz zwischen
Bild und Klang - wobei hier als "Bild" der Inhalt der Aussage steht (Was
wird gesagt), während der Klang den sinnlichen Aspekt verkörpert (Wie
wird es gesagt). Etwa, wenn das Kind behauptet "Ich habe die Schokolade nicht
aus dem Schrank genommen", sich jedoch durch seinen Tonfall verrät. Schon die
geringste Unsicherheit in der Stimme, das leiseste Zögern oder
Überakzentuieren schafft hier meist Klarheit, frei nach der Devise "der Ton
macht die Musik". Man achte in diesem Zusammenhang nur einmal auf die
Besetzung der Synchronstimmen bei entsprechenden ausländischen Filmen. Etwa
auf John Waynes rauhes aber zugleich "grundehrliches" Organ, Jack Nickolsons
stets zynischen Unterton, Robert de Niros sprödes Timbre (Christian
Brückner), das ihn in nahezu jeder Handlung zum Bösewicht stempelt, zumindest
aber zur zwielichtigen Figur oder Demi Moores erotischen Appeal (Katja
Nottke), desgleichen bei Winona Ryder, bei der die gewisse "jugendliche"
Komponente noch hinzukommt. Bezeichnend auch in diesem Zusammenhang, dass
Anthony Hopkins, normalerweise von Rolf Schult synchronisiert, in Nixon
(1995) ein anderes Stimmdouble (Hartmut Reck) erhielt. Ging es doch in Oliver
Stones Präsidenten-Epos um die Aufwertung eines ohnehin bereits stark
ramponierten Nixon-Bildes.
"Wenn du tot wärst und man sagen müsste, wie du warst: wäre
es besser, sich eines Bildes oder eines Tones zu bedienen? Oder mehrerer
Bilder und mehrerer Töne?" - "Töne!" (Jean-Luc Godard in einer
Fernsehreportage)
Filmkomponist und Buchautor Norbert Jürgen Schneider
bringt hierzu einen treffenden Dialog zwischen dem französischen Regisseur
Jean-Luc Godard und einem Mädchen namens Camille. Auf Godards Frage nämlich,
was wohl mächtiger sei, Bilder oder Töne, favorisiert Camille ohne zu zögern
die Töne.